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Wenn zu wenige Familien zu viele Lasten tragen

Ungerechtigkeit in den Sozialversicherungen: Familienverbände ziehen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.


Autorin: Cornelia Huber


Kinder bekommen die Leute immer? das stimmt zunehmend weniger. Ein Problem für die ganze Gesellschaft, denn die Sozialversicherungen funktionieren nur dann, wenn genügend jüngere Menschen für die Älteren einzahlen.
Kinder bekommen die Leute immer? das stimmt zunehmend weniger. Ein Problem für die ganze Gesellschaft, denn die Sozialversicherungen funktionieren nur dann, wenn genügend jüngere Menschen für die Älteren einzahlen.

Seit dem Jahr 1959 gewährleistet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg die Menschenrechte von 700 Millionen Europäern in den 46 Mitgliedstaaten des Europarats, die die Menschenrechtskonvention ratifiziert haben. Vor kurzem ging bei dem international besetzten Gericht ein neuer Fall aus Deutschland ein. Ein sozialversichertes Ehepaar mit vier minderjährigen Kindern klagt gegen die Nichtberücksichtigung ihrer Kindererziehung bei der Beitragserhebung zur Renten- und Krankenversicherung. Zwei Familienverbände, der Deutsche Familienverband (DFV) und der Familienbund der Katholiken (FDK), unterstützen sie dabei. Über die Hintergründe des Verfahrens hat die „Tagespost“ mit dem Bundesgeschäftsführer des Familienbundes der Katholiken, Matthias Dantlgraber, gesprochen.


Herr Dantlgraber, Sie begleiten das beitragsrechtliche Verfahren einer Großfamilie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Können Sie kurz zusammenfassen, worum es geht? 

Wir sind vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezogen, weil wir eine Benachteiligung für Familien in der Sozialversicherung, konkret in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sehen. Wichtig ist, dass es uns nicht um eine Bevorzugung der Familien geht, sondern um Gerechtigkeit. Die Diskussion der Ungleichbehandlung stellt sich dadurch, dass im Gegensatz zu vergangenen Jahrzehnten ein erheblicher Teil der Bevölkerung keine Kinder bekommt. Die Benachteiligung der Familien liegt konkret darin, dass sie zwei Beiträge leisten, nämlich einerseits die Geldbeiträge, die von ihrem Arbeitseinkommen abgehen, und andererseits den generativen Beitrag, also die Kindererziehung. Beide Beiträge sind konstitutiv und sehr wichtig für das Umlageverfahren. Sie werden aber nicht ausreichend berücksichtigt.


Der älteste Zweig der Sozialversicherung ist die unter dem damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck 1883 eingeführte gesetzliche Krankenversicherung. Sie ist heute wie die Renten- und Pflegeversicherung als Umlageverfahren aufgebaut. Was bedeutet das?

Im Umlageverfahren zahlen die Jüngeren für die Älteren. In der Rentenversicherung ist das vielleicht am offensichtlichsten und am bekanntesten. Aber auch in der Krankenversicherung erfolgt ein Geldfluss von der jüngeren zur älteren Generation, weil die bei Weitem überwiegenden Kosten im hohen Alter anfallen, während für jüngere Menschen sehr niedrige Kosten auftreten.


Welche Folgen hat die beitragsrechtliche Ausgestaltung des Umlageverfahrens für die Familien?

Das Problem ist momentan, dass den Familien durch die hohen Beitragslasten sehr viele Mittel entzogen werden und sie in der Rente lediglich eine geringe Gegenleistung erhalten. Das sieht man unter anderem am sogenannten Gender Pension Gap. Gerade Frauen haben häufig sehr niedrige Renten. Eine gerechte Bewertung des Beitrags der Kindererziehung würde auch dazu beitragen, dass Menschen wieder mehr Mut haben, sich für Familie zu entscheiden.


Der Familienbund der Katholiken schlägt als Lösung einen Kinderfreibetrag in der Sozialversicherung vor. Was ist damit gemeint?

Die Idee des Kinderfreibetrags in der Sozialversicherung baut auf der Rechtslage auf, die wir bereits im Steuerrecht haben. Hier ist es so, dass ein Betrag in Höhe des Existenzminimums nicht besteuert wird. Diesen Betrag muss man mindestens für ein Kind aufbringen. Wir halten es für gerecht, wenn in der Sozialversicherung dasselbe gilt. Damit würde auch vermieden, dass Familien zuerst durch Abgaben der öffentlichen Hand in Armut geraten und anschließend in einem aufwendigen Verwaltungsverfahren staatliche Leistungen beantragen müssen. Dieses Verfahren ist äußerst ineffizient.


Eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kann man erst einlegen, wenn der nationale Rechtsweg erschöpft ist. 2022 hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die soziale Pflegeversicherung vom Gesetzgeber eine Beitragsermäßigung für Mehrkinderfamilien verlangt. Wieso nicht auch bei der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung?

Es ist richtig, dass das Problem des Urteils insbesondere die Renten- und Krankenversicherung betrifft. In der Pflegeversicherung haben wir einen Teilerfolg erzielt, der vom Gesetzgeber umgesetzt wurde, sodass Familien mit mehreren Kindern seit Juli 2023 weniger Beiträge zahlen müssen. Bei der Renten- und Krankenversicherung war das Bundesverfassungsgericht der Auffassung, dass bestimmte Maßnahmen wie die beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung sowie die Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung die Benachteiligung der Familien hinreichend ausgleichen würden. Wir bestreiten aber sehr deutlich, dass das ein adäquater Ausgleich ist.


Was ist an dieser Entscheidung im Hinblick auf die Menschenrechte problematisch?

Ein Hauptpunkt für uns ist der Anspruch auf ein faires Verfahren, den die Europäische Menschenrechtskonvention in Artikel 6 gewährleistet. Wir wurden 2022 durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts überrascht. Das Gericht baut seine Entscheidung nicht auf den einschlägigen eigenen Urteilen der Vergangenheit auf, sondern urteilt nach neuen Kriterien und ohne die von uns in verschiedenen Gutachten genannten ökonomischen Zahlen zu berücksichtigen. Stattdessen behauptet das Bundesverfassungsgericht pauschal, dass die Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung oder die beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung hinreichende Ausgleiche sind. Zum Anspruch an den gesetzlichen Richter gehört aber, dass ein Richter dann, wenn nicht die juristische Perspektive, sondern die ökonomische Perspektive gegeben ist, externen Sachverstand einholt. Wenn das Bundesverfassungsgericht die von uns vorgelegten Zahlen nicht für richtig hält, hätte es aus unserer Sicht ein Gutachten eines anderen Ökonomen einholen müssen. Außerdem fand keine mündliche Verhandlung statt, wir hatten keine Chance, auf die neue Argumentation des Gerichts zu reagieren, sodass wir auch unseren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt sehen.


Was besagten die von Ihnen vorgelegten Gutachten?

Wir haben als Beschwerdeführer durch umfangreiche wissenschaftliche Gutachten belegt, dass die meisten Familien in der Krankenversicherung weiterhin Nettozahler sind. Erst ab dem vierten Kind ergibt sich aus der beitragsfreien Mitversicherung eine Begünstigung der Familien. Und bei den Kindererziehungszeiten ist der ökonomische Wert der Erziehung eines Kindes etwa 15-mal so hoch wie der Ausgleich, der durch die Kindererziehungszeiten erfolgt. Laut dem Gutachten des jetzigen Mitglieds des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Martin Werding, fließt durch jedes Kind ein Plus von 77 200 Euro in die Rentenversicherung. Hier sind alle Leistungen, die das Kind später selbst aus der Rentenversicherung erhalten wird, bereits abgezogen. Wenn man auch Effekte der weiteren Generationen einbezieht, geht dieser Wert noch deutlich nach oben.


In der Beschwerde machen Sie weitere Menschenrechte geltend, wie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens oder das Diskriminierungsverbot.

Das ist richtig. Durch diese ungünstigen Transfers, bei denen viel Geld von den Familien in die Versicherung fließt, aber nur sehr wenig in Gestalt von Leistungen zurückfließt, werden Familien und insbesondere Personen, die sich um Kinder gekümmert haben, diskriminiert und in ihrem Anspruch auf Achtung des Familienlebens verletzt. Es ist ein Menschenrecht, ein Familienleben zu führen. Wenn damit aber automatisch eine starke Benachteiligung verbunden wird, ist das Recht unserer Ansicht nach beeinträchtigt. Denn insbesondere die Mütter erhalten nur sehr niedrige Renten und der Wert des generativen Beitrags wird nicht hinreichend berücksichtigt.


Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten der Klage ein und welche Folgen hätte eine positive Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs?

Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Menschenrechtsverletzung feststellt, wäre der deutsche Staat verpflichtet, diesen Verstoß zu beseitigen. Dabei hätte der Gesetzgeber einen gewissen Spielraum. Mit der Argumentation zum Recht auf Achtung des Familienlebens und zum Diskriminierungsverbot betreten wir auf europäischer Ebene Neuland, sodass der weitere Fortgang abzuwarten bleibt. Bei der Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren sehen wir mit Blick auf frühere Urteile des Gerichtshofs gewichtige Gründe, die uns optimistisch stimmen.


Die Autorin ist Verwaltungsjuristin und freie Journalistin.


ree


 
 
 

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