top of page

Bindungen formen das Gehirn

Gehirnbildung hat viel mit Beziehungen zu tun, belegen die Neurowissenschaften. Das sollte Konsequenzen haben für Geburtsvorsorge, frühkindliche Betreuung, Bildung und Pflege.


Ein Artikel aus der Tagespost vom 28.03.2025


Autorin: Cornelia Huber


Das Geld in Form von Besteuerung und Umverteilung spielt auch bei der Familienpolitik eine Schlüsselrolle
Das Geld in Form von Besteuerung und Umverteilung spielt auch bei der Familienpolitik eine Schlüsselrolle

Soziale Interaktionen werden zunehmend digitalisiert: Wir erhalten und schreiben eine Fülle an Whatsapp-Nachrichten, nehmen beruflich oder privat nahezu täglich an Videokonferenzen teil oder nutzen die praktische Telesprechstunde beim Arzt. Spontane Besuche, Präsenz-Besprechungen mit gemeinsamer Kaffeepause nebst einem Plausch über Persönliches oder eine ausführliche medizinische Anamnese, die den Patienten in seiner individuellen Lebenssituation in den Blick nimmt, haben dagegen schon fast Seltenheitswert. Gleichzeitig fühlen sich immer mehr Menschen einsam und sozial isoliert.


Der Wissenschaftsautorin und Referentin Nicole Strüber zufolge ist das kein Wunder. In ihrem neuen Werk mit dem Titel „Unser soziales Gehirn“ thematisiert sie die Bedeutung des sozialen Miteinanders für unser körperliches und psychisches Wohlbefinden. Mit fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschliche Gehirnentwicklung und anschaulichen Beispielen regt die Autorin dazu an, über die Bedeutung von Gemeinschaft und Empathie in unserem Leben nachzudenken. Strübers interdisziplinärer Ansatz verknüpft Neurowissenschaften, Psychologie und Sozialwissenschaften miteinander und vermittelt, dass das Gehirn nicht nur biologisch, sondern auch durch soziale Erfahrungen geformt wird. Dies wirke sich nicht nur auf das ganz persönliche Leben, sondern auch auf die Entwicklung von Gemeinschaften und Gesellschaften aus.


Nach einem überblicksartig gehaltenen ersten Teil über die Bedeutung des sozialen Miteinanders für das Gehirn präsentiert Strüber einen zweiten Abschnitt mit konkreten, umsetzbaren Anregungen für verschiedene Lebensphasen von der frühen Kindheit bis zum hohen Alter. Inhaltlich geht es etwa um den Einfluss sozialer Bindungen auf die Entwicklung des menschlichen Gehirns, die neurobiologischen Mechanismen, die hinter den verschiedenen sozialen Interaktionen stehen, die Bedeutung früher positiver oder negativer Erfahrungen für die neuronalen Verbindungen im Gehirn und die Entstehung von Empathie und sozialen Fähigkeiten. Einschübe und Verweise liefern stets verständlich dargestelltes, umfangreiches Hintergrundwissen.


Das „Kuschelhormon“ fördert Bindungen

Wie die Forschung belegt, kommt im sozialen Verhalten dem oft als „Kuschelhormon“ bezeichneten Neuropeptid Oxytocin eine zentrale Rolle zu. Es zeichnet für die Bildung von Bindungen verantwortlich, insbesondere zwischen Müttern und ihren Neugeborenen. Außerdem fördert es das Gefühl von Vertrauen und Sicherheit in sozialen Beziehungen. Oxytocin erhöht aber auch die Bereitschaft zur sozialen Interaktion und kann dazu führen, dass Menschen offener und empathischer gegenüber anderen sind. Des Weiteren hat es eine beruhigende Wirkung und trägt dazu bei, die physiologischen Reaktionen auf Stress zu mildern. Ferner zeigen Menschen mit höheren Oxytocinspiegeln oft eine verbesserte Fähigkeit, Emotionen zu erkennen und darauf zu reagieren. Neben Altruismus und Hilfsbereitschaft fördert Oxytocin aber auch in bestimmten Kontexten aggressives Verhalten.


Eine weitere Grundlage für stabile soziale Beziehungen ist das sogenannte „Synchronisieren“, das Verständnis und Empathie begünstigt und so zu einer harmonischeren und effektiveren Kommunikation führt. Dabei stimmen Individuen in sozialen Situationen emotionale und körperliche Zustände aufeinander ab. Dies geschieht oft unbewusst. So passen Menschen zum Beispiel ihren Sprachstil, ihre Tonlage oder ihren Wortschatz an, um sich besser auf ihr Gegenüber einzustellen. Bei Gruppenaktivitäten, wie beim Tanzen oder Singen, synchronisieren die Teilnehmer häufig ihre Bewegungen oder Stimmen. Dies schafft ein Gefühl der Gemeinschaft und des Zusammenhalts.


Beim Abgleich der wissenschaftlichen Ergebnisse mit der Realität typischer Situationen im Lebensverlauf verdeutlicht die Autorin, dass es an vielen Stellen hakt. Beispiele sind die nicht immer medizinisch begründete Vielzahl an Interventionen beim Geburtsgeschehen, von Einleitungen bis hin zum Anstieg der Kaiserschnittrate auf über 30 Prozent, fehlende Antworten im Bildungsbereich auf fortbestehende pandemiebedingte Bildungslücken durch (damals) fehlende Synchronität beim digitalen Lernen, die als Technoferenz bezeichneten Störungen und Unterbrechungen eines partnerschaftlichen Austauschs, aber auch des Familienlebens durch das Smartphone oder das Pflegekräfte wie alte Menschen überfordernde Aufeinandertreffen von menschlichen Bedürfnissen, engen Zeitvorgaben und Kalkulationen in der ambulanten Pflege.


Empirie bestätigt Lebenserfahrungen

Strüber plädiert vor dem Hintergrund der neurobiologischen und psychologischen Forschung daher für die vaginale Geburt mit kontinuierlicher und warmherziger Unterstützung durch eine Hebamme. Mit Blick auf die Bedürfnisse des kleinen Kindes nach einfühlsamen und zuverlässig verfügbaren Bezugspersonen und die desolate Personalsituation in vielen Kitas räumt die Autorin auch mit der weit verbreiteten Mär auf, einjährige Kinder profitierten generell von einer frühen Betreuung. Studien belegen vielmehr, dass die frühe außerhäusliche Betreuung nur dann für die kindliche Entwicklung förderlich ist, wenn sie im Vergleich zur elterlichen Betreuung ein Mehr an liebevoller, feinfühliger Zuwendung und stressfreiem, kognitiv stimulierendem Miteinander bedeutet. Für Familien, deren Einkommens- und Bildungssituation auf weniger Belastungen schließen lässt, zeigte sich dagegen ein gegenteiliger Effekt.


In der Gesamtschau dürften zwar nicht wenige der empirisch belegten Einsichten der allgemeinen Lebenserfahrung entsprechen. Dass zwischenmenschliche Nähe, zärtlicher Körperkontakt und die Geborgenheit in der Familie Kindern wie Erwachsenen gut tun, es auch im Business nicht nur um Fachwissen und kognitive Fähigkeiten geht und soziale Fähigkeiten, Hilfsbereitschaft und Vertrauen den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt steigern, sind keine wirklich neuen Erkenntnisse. Aber die Erinnerung daran scheint in der heutigen Zeit wichtig zu sein, um sich gesellschaftlichen Tendenzen wie Vereinzelung, Individualisierung und Entkörperung sozialer Beziehungen im eigenen Leben bewusst entgegenzustellen.

Nicole Strüber: Unser soziales Gehirn: Warum wir mehr Miteinander brauchen, Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 384 Seiten, EUR 20,


ree


 
 
 

Kommentare


bottom of page