Ein Beitrag aus der Tagespost vom 01.11.2024
Autor: Richard Schütze, Stiftungsratsvorsitzender der Stiftung für Familienwerte
Stolz richtete er sich auf und blickte mir siegessicher in die Augen. „Heute, Papa, habe ich an meinem ersten Tag im Kindergarten gleich etwas Entscheidendes gelernt“, verkündete mein Sohn. „Im Leben kommt es immer darauf an: Wer ist der Bestimmer?“ Wenn der Beantwortung dieser Frage schon in einer Gruppe entscheidende Bedeutung zukommt, wie viel mehr kommt es dann darauf an, Herr im eigenen Hause, also im und über den eigenen Körper, und Bestimmer der eigenen Lebensgestaltung zu sein?
Die Basis für mein Selbst und Ich ist zunächst, ob ich Männlein, Weiblein oder sonst etwas bin. Biologisch gibt es faktenbasierte Befunde; zwei XX-Chromosomen definieren das weibliche, ein X- und ein Y-Chromosom das männliche Geschlecht. Oder noch mehr vereinfacht: Frauen können Kinder gebären, Männer können Kinder zeugen.
Der Mensch ist Leib und Seele, hat Körper und Geist
Doch der Mensch ist ein komplexes Wesen. Die klassische Philosophie und Anthropologie sehen es so: Der Mensch ist Leib und Seele und hat Körper und Geist. Der Körper weist primäre Geschlechtsmerkmale als diejenigen Merkmale auf, die direkt mit der Fortpflanzung und der Funktion der inneren und äußeren Geschlechtsorgane verbunden sind; wie etwa Eierstöcke, Eileiter, Gebärmutter und Vagina bei der Frau und Hoden, Penis und Prostata beim Mann. Diese Merkmale entwickeln sich, wenn sich keine genetischen Anomalien oder zum Beispiel auch hormonelle Störungen einstellen, beim Embryo und unterscheiden biologisch das weibliche und das männliche Geschlecht.
Seele und Geist aber hinterfragen alle Oberfläche; der hymnische Troubadour Udo Jürgens war in einem Song „Auf der Suche nach mir selbst“ und der Zeitgeistphilosoph Richard David Precht schrieb den Bestseller „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ Es geht um die eigene Identität, um das Selbstbild. Neben dem Wissen um Herkunft und biologische Identität spielen aber auch Emotionen und psychische Faktoren eine gewichtige Rolle.
Mann- oder Frau-Sein bedeutet in der Gesellschaft, eine Rolle zu übernehmen oder zugewiesen zu bekommen. Für Marxisten geht es dann auch um Machtfragen. Wenn gesellschaftliche Strukturen vorwiegend Konstrukte sind, dann bedeutet analog zur Emanzipation der von Kapitalisten ausgebeuteten Arbeiterklasse durch eine revolutionäre Veränderung der Produktionsverhältnisse die Angleichung der Geschlechter eine Befreiung der Frauen – zum Beispiel von patriarchalischer Unterdrückung. Zunächst übernehmen Frauen alle Tätigkeiten, die bislang vorwiegend von Männern ausgeübt wurden; sie werden quasi vermännlicht. Wenn umgekehrt Männer sich als Frauen gerieren und zu verweiblichen suchen, erübrigen sich Institutionen wie Ehe und Familie als gesellschaftliche Kerngemeinschaften. Übrig bleibt der Staat als kollektive Gestaltungsmacht.
Die Politik fühlt sich zuständig und reagiert
Doch neben diesen besonders in der westlichen Welt auftretenden neomarxistischen Ansätzen zu einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung gibt es auch psychische Phänomene. Zwischen 0,5 und 1,3 Prozent aller Menschen sollen – vor allem im Jugendalter und in der Pubertät – an Geschlechtsdysphorie leiden. Sie fühlen sich oft emotional oder psychisch belastet durch einen Widerspruch zwischen dem von ihnen empfundenen Geschlecht und ihrem biologischen Geschlecht. Dies kann in unterschiedlicher Anzahl der Fälle zu Depressionen, Angststörungen oder anderen psychischen Phänomenen führen.
Die Politik fühlt sich zuständig und reagiert. Am 1. November soll das von der Ampelkoalition initiierte „Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag“ (SBGG), kurz „Selbstbestimmungsgesetz“ genannt, in Kraft treten. Für „transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen“ soll es künftig einfacher sein, ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister und damit die geschlechtliche Identität durch eine einfache Erklärung gegenüber dem Standesamt samt dem Vornamen ändern zu können. Das Gesetz soll an die Stelle des Transsexuellengesetzes (TSG) von 1980 treten, dass das Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen als zumindest teilweise verfassungswidrig erklärt hatte.
Mit Bezug auf die in Artikel 1 des Grundgesetztes als unantastbar postulierte Menschenwürde folgert das Gericht ein Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung als ein fundamentales Grundrecht, das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes) abgeleitet wird. Eine freie Wahl der geschlechtlichen Identität einer Person und das Recht, diese nach eigenen Vorstellungen auszuleben, sollen Ausdruck und Erfüllung von Freiheit und Selbstbestimmung sein.
„Kindeswohlgefährdende Freistilmedizin ohne jegliche Evidenz“
Psychologen und Psychiater aber kennen die Phänomene, die den Wunsch nach einem Umbau oder einer Neukonstruktion des eigenen Geschlechts hervorbringen. Häufig spielen dabei das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen eine große Rolle. Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Alexander Korte, der zugleich Sexualtherapeut und Kulturwissenschaftler ist, war Mitglied einer Kommission, die sich sieben Jahre lang bemüht hat, neue Leitlinien zur geschlechtsangleichenden Behandlung bei Kindern und Jugendlichen zu erarbeiten. Für Korte bedeutet das „Selbstbestimmungsgesetz“ eine „kindeswohlgefährdende Freistilmedizin ohne jegliche Evidenz“. Dass sogar Kinder unter 14 Jahren mit Zustimmung ihrer Eltern irreversible operative und hormonelle Eingriffe (wie Amputationen der Brüste oder die Verordnung von „Pubertätsblockern“) über sich ergehen lassen, hält er für unverantwortbar und einen „irrsinnigen deutschen Sonderweg“, der vorwiegend genderideologisch inspiriert sei. Er resümiert: „Psychotherapie scheint ‚out‘, Körperveränderung ist ‚in‘“.
Romano Guardini, Philosoph, Theologe und einer der bedeutendsten christlichen Denker des 20. Jahrhunderts, geht es in seiner Schrift „Die schwierige Annahme seines Selbst“ um die Akzeptanz der eigenen Existenz mit all ihren Widersprüchen. Er sieht eine reflektierte Selbstannahme als Voraussetzung für eine innere Reifung auf dem Weg zu echtem Menschsein. Der Glaube an Gott und das Vertrauen in die göttliche Gnade könne dem Menschen helfen, sich in seiner ganzen Komplexität und trotz aller Unvollkommenheit anzunehmen.
Die Frage nach der an die Menschenwürde gebundenen Freiheit wird im Buch Genesis (1,27) so beantwortet: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ Die Geschlechterdifferenz und die Komplementarität von Mann und Frau wird als Teil der göttlichen Schöpfungsordnung in der Schöpfungserzählung bewusst hervorgehoben. Als „Bestimmer“ der Natur und Wesenheit des Menschen tritt der Schöpfer in Erscheinung.
Die in Artikel 1 des Grundgesetzes als unantastbar erklärte Menschenwürde fußt bewusst auf der Präambel der Verfassung: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Geschöpf zu sein und zu akzeptieren, dass wir zwar unser Leben selbst bestimmen können, aber nicht unsere „faktenbasierte Herkunft“, kann einen inneren und auch gesellschaftlichen Frieden bringen. Wir können – so Guardini – im Einklang mit uns selbst ein sinnerfülltes Leben in „Freundschaft mit sich selbst“ führen.
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