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Der demographische Winter



Der Fachkräftemangel ist die Folge eines 50 Jahre lang ignorierten Geburtenmangels. Anders als Japan, Ungarn oder China hat Deutschland auf diese Gefahren noch nicht reagiert. Ein Gastbeitrag


von KARL-HEINZ B. VAN LIER (Präsident der "Stiftung für Familienwerte")


Putins Krieg gegen die Ukraine hat dazu geführt, dass Bundeskanzler Scholz für die Politikbereiche Verteidigung und Außenpolitik eine Zeitenwende verordnet hat. Damit sollte ideologisches Wunschdenken der Politik gegen eine offensive Strategie eingetauscht werden, die den Erfordernissen der Wirklichkeit gerecht würde. Aber wer heute das von vielen Krisen geschüttelte Deutschland betrachtet, der wird der Ausweitung der Zeitenwende auch auf weitere Politikbereiche sicher zustimmen. So bedarf unser Land einer schonungslosen Analyse der Ursachen des grassierenden Fachkräftemangels, der längst nicht nur Branchen der Dienstleistung und der Wirtschaft befallen hat, sondern absehbar alle Bereiche des täglichen Lebens lahmlegen wird und damit unsere Wohlstandsgesellschaft als Ganzes bedroht.

Diese Entwicklung kann keineswegs als ein Naturereignis betrachtet werden. Sie ist selbst verschuldet und war für jedermann vorhersehbar. Denn im Gegensatz zur Klimapolitik, die sich dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet weiß, hat die für die demographische Entwicklung zuständige Familienpolitik einen über 50 Jahre andauernden Geburtenmangel hingenommen, ohne spürbare Anreize für eine familienfreundliche Politik zu setzen.


Wie ist das möglich? Wir erinnern uns:

In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts verzeichnete Deutschland einen hohen Überschuss von beinahe 1,4 Mio. (1964) Geburten. Deshalb sprechen wir von Babyboomern. Dieser Trend hielt bis 1972 an und fiel dann dramatisch ab. In den darauffolgenden Jahren verringerte sich die Zahl der Geburten auf durchschnittlich 750.000, also auf etwa die Hälfte. Damit begann die lange Zeit extrem niedriger Geburtenzahlen, die im Ergebnis dazu führte, dass die deutsche Bevölkerung (ohne Zuwanderung, die die Einwohnerzahl erhöht) in der kommenden Generation um Ein-Drittel schrumpft. Das wiederum hat zur Folge, dass Deutschland zusammen mit Japan das älteste Volk der Welt ist. Der Anteil der jungen Menschen nimmt dramatisch ab, der der Älteren nimmt dagegen weiter zu. Es ist jedoch ein Trugschluss zu glauben – so betont etwa der prominente Demographie Experte Herwig Birg –, dass die Alterung der Bevölkerung durch die hohe Zuwanderung umkehrbar sei.


Werfen wir einen Blick nach Frankreich, das mit Irland über Jahre hinweg die höchste Geburtenziffer aller europäischen Staaten aufwies, die ihrerseits allesamt einen Rückgang der Geburten beklagen. In Frankreich haben alle Präsidenten seit de Gaulle bei ihrer traditionellen Silvesteransprache die Höhe der Geburtenzahlen genannt und diesen Befund in Verbindung gebracht mit der guten Aussicht auf die Prosperität Frankreichs. Dies war Ausdruck einer kinderfreundlichen Familienpolitik, die auf kinderreiche Familien setzt. Erstaunlich ist, dass in der Zeit der beiden Präsidenten Hollande und Macron, die anderen Schwerpunkte gesetzt haben, die Geburten in Frankreich sanken, und zwar unterhalb einer ausgeglichen Bevölkerungsentwicklung. Andere Länder wie China, Japan, Bulgarien, Ungarn, die ebenfalls drastische Einbrüche bei den Geburtenzahlen aufweisen, haben deutliche Anstrengungen zugunsten von Familien unternommen, auch um die fatalen Folgen für die Wirtschaftskraft des Landes abzuwenden. „Demographische Chance“ nannte die damalige Wissenschaftsministerin Schavan 2013 euphemistisch den anhaltenden Geburtenmangel. Entsprechend sprechen bis heute weder die Politik noch die Medien von einer höchst problematischen Bevölkerungsentwicklung.


Papst Franziskus nennt die „Chance“ zu Recht den „demographischen Winter“, den es zu überwinden gelte, „weil er sich gegen unsere Familien, gegen unsere Heimat und sogar gegen unsere Zukunft richtet“. Dass diese Bewertung begründet ist, belegt eine Prognose des Berlin- Instituts für Bevölkerung und Entwicklung nach der „im brandenburgischen Landkreis Spree-Neiße im Jahr 2035 auf eine Geburt über vier Beerdigungen kommen“.

Spätestens hier muss die Frage erlaubt sein, warum es über die letzten Jahrzehnte keinerlei Anreize zur Steigerung der Geburtenrate gab.

Und da muss die Antwort verblüffen: Weil es bis heute über Parteigrenzen hinweg einen richtungsweisenden Konsens gibt, nämlich auf den Geburtenmangel als die Lösung zu setzen. Dazu muss man wissen, dass der frühere Bundespräsident Horst Köhler 2005 in Berlin eine Reihe von Demographie-Foren startete und dort verkündete: „Die demographischen Probleme Deutschlands sind in Wahrheit keine Probleme, sondern, Lösungen' für andere Probleme.“ Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland sei etwas Positives, weil er ausgleichend auf das Wachstum der Weltbevölkerung wirke.

Im Ergebnis bedeutet aber das, was Horst Köhler, Frau Schavan, die einflussreiche Bertelsmann Stiftung und auch Bundespräsident Gauck „demographischen Chance“ nennen, tatsächlich genau das Gegenteil. Wobei Massenzuwanderung und eine auf Diversity ausgerichtete Politik Bestandteil dieser Strategie ist.


Und auch die irreführende sprachliche Vorgabe findet bis heute Anwendung, spricht doch die deutsche Öffentlichkeit samt den Medien unreflektiert von der „demographischen Entwicklung“, dem „Wandel“ oder gar von der „Chance“. So ist die Assoziation zur höheren Lebenserwartung geweckt und der Gedanke an den Geburtenschwund und deren Folgen ausgeblendet. Der Begriff Geburtenmangel ist seither im politischen Diskurs tabuisiert. Und wo von einem demographischen Wandel gesprochen wird, muss es denn auch keine explizite Anreizpolitik für die Gründung von Familien geben, und die jährlichen Kindergelderhöhungen von einem oder zwei Euro dürfen denn auch eher an ein Almosen erinnern. Und das in einem reichen Land wie Deutschland. Es ist daher kein Zufall, dass unsere Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen auch die Kinderlosigkeit prämieren.


Wir müssen wissen – und das zeigt bei Lichte gesehen die Unredlichkeit der politischen Führung–, dass das Ziel, das Wachstum der Weltbevölkerung durch den eigenen nationalen Geburtenmangel, also den Bevölkerungsrückgang, ausgleichen zu wollen, weder in den Parteien öffentlich diskutiert noch im Deutschen Bundestag beschlossen werden sollte. Und tatsächlich gab es beides nicht. So gesehen, gibt es bis heute keine demokratische Legitimation für dieses in der Welt einmalige bevölkerungspolitische Experiment. Wer heute die Dimension des Fachkräftemangels kennt, wird sich fragen, wie die politisch Verantwortlichen diese höchst fragwürdige Top-down-Strategie ohne jede Folgeabschätzung umsetzen wollten. Nur um eine konkrete Folge zu nennen: Deutschland gehen jährlich 86 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung verloren (nach den Berechnungen der Unternehmensberatung BCG). So verwundert nicht, dass all jene, die von der „demographischen Chance“ sprechen, völlig die Größenordnung des Geburtenschwunds unterschätzten, der ersetzt werden muss, um das organisch gewachsene System des Gemeinwesens, bestehend aus Sozialstaat, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur etc. in seiner Leistung nachhaltig am Leben zu halten. Die Verantwortlichen für den sogenannten „demographischen Wandel“ hätten zumindest die Binsenwahrheit zur Kenntnis nehmen müssen, dass Kinder, die in den letzten 50 Jahren nicht geboren wurden, heute keine Fachkräfte sein können.


Stattdessen setzen sie auf einen Zufluss durch ungesteuerte Migration, meist von Wirtschaftsflüchtlingen, also von Erwachsenen, die mehrheitlich nicht unsere Sprache sprechen, nicht in unseren Breiten sozialisiert wurden, eher selten unsere Welt und Menschenbild mitsamt einer hohen Leistungsbereitschaft vertreten und damit nur schwer integrierbar sind; was nicht ausschließt, dass eine Minderheit von ihnen gut integriert ist. So hat die Politik bisher versäumt, für Deutschland ein praktikables Integrationskonzept zu verabschieden, das eine qualifizierte Einwanderung, ähnlich wie in Kanada mittels Punktesystem vorsieht. Warum streicht die Ampel Integrationskurse, in denen Sprachunterricht erteilt wird?


Der Mangel an Fachleuten weitet sich inzwischen zu einer Monsterwelle aus. Und sie wird noch an Größe zunehmen, wenn in den nächsten zehn Jahren etwa fünf bis sechs Millionen Babyboomer den Arbeitsmarkt verlassen, weil sie in Rente gehen. Da das neue Bürgergeld kaum Anreize für Leistungsbezieher setzten wird, eine Arbeit aufzunehmen oder eine Berufsausbildung zu beginnen, wird von den 1,9 Millionen offenen Stellen in Deutschland kaum eine in ein Arbeitsverhältnis umgewandelt werden. Der Ampelkoalition darf unterstellt werden, dass sie die Bedeutung von fehlendem Humankapital in ihrer Tragweite für die Entwicklung Deutschlands kaum erkannt hat. Diese Aussage trifft übrigens auch für den Bereich der Bildung zu. Deshalb fehlt ihr auch eine erkennbare Exit-Strategie zur Anwerbung einsatzbereiter ausländischer Fachkräfte.

Übrigens wird der internationale Arbeitsmarkt kaum den erwünschten Ersatz liefern können. Gleichwohl sind die betroffenen Branchen angewiesen, alle nur denkbare Wege zu beschreiten, um aus dem In- und Ausland Personal zu rekrutieren. Wo das nicht gelingt, droht Insolvenz oder bleibt den Unternehmen nur die Alternative, den Firmensitz ins Ausland zu verlegen. So gesehen, verwaltet Deutschland den

wachsenden Notstand. Um nicht zu riskieren, dass sich mittel-bis langfristig das Vorzeichen unserer Gesellschaft

von Wachstum auf Schrumpfung verändert, kann „demografische Chance“ nur heißen: die Investition in eine Geburten orientierte Familienpolitik.




















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