Der kürzeste "Marsch für das Leben" wirft eine ganze Reihe von Fragen auf, muss aber gleichwohl als Erfolg betrachtet werden.
Peter Winnenmöller und Stefan Rehder Redakteure der Tagespost
Erstmals fand der jährliche „Marsch für das Leben“ in zwei Städten
gleichzeitig statt. Während der Marsch in Berlin in gewohnter Routine ablief, sorgte der in Köln für einige Schlagzeilen. Dabei erwies sich allerdings die erste Überschrift, die die BILD-Zeitung kurz nach Beginn des Marsches online stellte, als „Ente“. Das Boulevardblatt hatte online gemeldet, „radikale Abtreibungsgegner“ hätten ein Baugitter entwendet und sich mit der Polizei angelegt. Das sei, so eine Polizeisprecherin gegenüber den Veranstaltern des Marsches, in Köln nicht der Fall gewesen. Das Blatt habe da wohl Teilnehmer der Gegenversammlung fälschlicherweise als „radikale Abtreibungsgegner“ bezeichnet.
Tatsächlich ist der Marsch in Köln ausgesprochen friedlich und fröhlich verlaufen. Trotz des ernsten Themas zeigten die Teilnehmer eine gute Stimmung. Moderatorin Martina Hoppermann führte auch gleich den Erkennungsruf des Marsches ein, der in Anlehnung an den Kölner Karnevalsruf „Kölle Alaaf” „Kölle Alive“ („Köln lebt“) lautete. Eine kurze Schalte nach Berlin zeigte die Begrüßung der dortigen Teilnehmer durch die Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht (BVL), Alexandra Maria Linder. Auf dem Platz des 17. Juni, direkt vor dem Brandenburger Tor, hatten sich rund 4 000 Lebensrechtler und Sympathisanten eingefunden, darunter auch die Diözesanbischöfe Heiner Koch (Berlin) und Rudolf Voderholzer (Regensburg) sowie die Weihbischöfe Matthias Heinrich (Berlin) und Florian Wörner (Augsburg).
Als erster Redner der Kundgebung in Köln sprach Paul Cullen. Der Mediziner und Vorsitzende der „Ärzte für das Leben“ (ÄdfL) betonte den Wert des Lebens und des Rechts auf Leben, welches jeder Mensch besitze. Mit Blick auf die gegenwärtige Situation mahnte Cullen, es gelte auf die Straße zu gehen und das Gewissen für das Leben zu wecken. Für die „Christdemokraten für das Leben“ (CDL) sprach die Bundesvorsitzende Susanne Wenzel. Sie betonte, dass es derzeit erstmals eine Regierung in Deutschland gebe, die aktiv gegen das Leben arbeite. Dazu verwies sie beispielhaft auf den Wegfall des § 219 StGB, die geplante Abschaffung des § 218 StGB und die Pläne zum assistierten Suizid. Vor allem Frauen im Schwangerschaftskonflikt lasse die Regierung im Stich. Den Abschluss im Reigen der Redebeiträge machte Sandra Sinder von der „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA), die viele Frauen im Schwangerschaftskonflikt beraten hat. Sie berichtete, wie sehr Frauen in Schwangerschaftskonflikten in existenzielle Nöte kämen, die sie schnell an ihre Grenzen bringen würden. Anhand von Fallbeispielen zeigte Sinder auf, in welch einen Teufelskreis eine sich entsolidarisierende Gesellschaft Frauen bringen könne. Dabei wechsele die Entscheidung für oder gegen das Kind dann oft im Minutentakt. Nur eine Beratung, die die Sorgen der Schwangeren ernst nehme und ihnen Optionen aufzeige, könne diesen Frauen den Blick auf eine Perspektive für das Kind eröffnen.
„Versagen der Meinungsfreiheit“
Nach der Kundgebung auf dem Heumarkt sollte der Marsch durch die Kölner Innenstadt beginnen. Dabei zeigte sich schnell, dass man in Köln nicht so gut vorbereitet war wie in Berlin. Schon vor dem Verlassen des Heumarktes war der Weg, den der Marsch nehmen sollte, von Gegendemonstranten blockiert. Nach mehr als 30 Minuten setzte sich der Demonstrationszug schließlich auf einer Ausweichroute in Bewegung. Doch auch diese Route war nach 250 Metern von Gegendemonstranten blockiert. Daraufhin stoppte die Polizei die genehmigte Demonstration. Georg Dietlein, Rechtsanwalt und Versammlungsleiter der Veranstaltung, betonte gegenüber dieser Zeitung: „Es war ein Versagen der Meinungsfreiheit.“ Dass die Polizei weniger vorbereitet gewesen sei als beim „Marsch für das Leben“ in Berlin, könne laut Dietlein an einer anderen Demonstrationskultur in Köln liegen. Der Jurist äußerte den Eindruck, die Polizei sei während des Einsatzes überrascht gewesen. Der Einsatzleiter vor Ort habe zugegeben, dass zu wenig Polizeikräfte vor Ort seien. Da die Gegendemonstration nicht friedlich gewesen sei, habe die Polizei die Gegendemonstranten, die den „Marsch“ mit einer Sitzblockade aufhielten, nicht einfach wegtragen können. „Das war weniger ein Versagen der Polizei als die Folge einer erstmaligen Erfahrung“, so Dietlein. Eine Räumung der Blockadestelle, so teilte ein Sprecher der Polizei Köln auf Nachfrage mit, sei zunächst durch den Einsatzleiter veranlasst worden. Es sei ersichtlich geworden, dass eine Räumung nur unter einem erheblichen Einsatz von Zwangsmitteln möglich gewesen wäre. Nach Abwägung der betroffenen Grundrechte sei eine erneut abweichende Routenplanung vorgeschlagen worden. Das Klima für den „Marsch für das Leben“ war schon weit vor Beginn denkbar ungünstig, hatte doch die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker in den Sozialen Medien Partei für die Gegendemonstranten ergriffen.
Einige Teilnehmer hatten vor, während und nach der Veranstaltung von offenen Anfeindungen berichtet. Andreas Düren von der Lebensrechtsorganisation „Sundays for Life“, der beim „Marsch“ deren Stand betreute, wirft Demonstranten auch körperliche Gewalt vor. „Gewalt gegen Dinge kennen wir schon, aber nicht Gewalt gegen Personen“, so Dietlein zu den Vorfällen. Laut dem Veranstalter hatten Teilnehmer, darunter Minderjährige und ältere Personen, nach Auflösung der Veranstaltung noch Anfeindungen erleben müssen. Unter anderem hätten die Gegendemonstranten sie beschimpft und ihnen Materialien entwendet.
Den durch den Vandalismus entstandenen Sachschaden an Ständen, Pavillons und Bühnen können die Veranstalter zurzeit noch nicht beziffern. „Es gab ja viele Fälle von Vandalismus, die besonders in den letzten zwei, drei Wochen zugenommen haben“, so Mona Schwaderlapp, Autorin des Online-Magazins „f1rstlife“ und Mitorganisatorin des Marsches in Köln. So seien zum Beispiel das Haus von Kardinal Woelki sowie Gebäude des Opus Dei mit Farbe beschmiert worden. Die Gegendemonstration, die ebenfalls am Heumarkt stattfand, sei frühzeitig angemeldet worden. Die Gegendemonstranten organisierten sich, so Schwaderlapp, über Kanäle auf Instagram oder X, ehemals Twitter. Eine nach dem Marsch geplante Heilige Messe in der Minoritenkirche konnte nicht stattfinden. Gläubigen wurde von Gegendemonstranten der Zutritt zur Kirche verweigert. Gläubige, die bereits in der Kirche waren, berichteten davon, dass ihnen das Verlassen der Kirche erst nach längerer Zeit von der Polizei ermöglicht werden konnte.
Die vielen jungen Teilnehmer des Kölner „Marsches für das Leben“ ließen sich jedoch von den Zwischenfällen und Unannehmlichkeiten nicht beeindrucken. Ein Lautsprecherwagen sorgte für Musik, die das aggressive Geschrei der Störer übertönte. Inmitten der eingekesselten Demonstration feierten die jungen Menschen mit sehenswerten Tanzeinlagen und lautem Gesang ein friedliches und fröhliches Fest für das Leben und sorgten so dafür, dass ihr Anliegen, der Lebensschutz, in der Domstadt positives Aufsehen erregte. Und noch ein Highlight gab es: Unter den Lebensrechtlern befand sich auch eine junge Frau namens Norina. Dem TV-Sender K-TV verriet sie, 2018 und 2019 habe sie noch in Berlin auf der Gegenseite demonstriert. Dann habe sie jedoch Jesus kennengelernt und sich bekehrt, was Norina gegenüber K-TV nicht zuletzt auf das Gebet der Lebensrechtler zurückführte.
BVL kündigt rechtliche Schritte an
Der „Bundesverband Lebensrecht” (BVL) kündigte in einer Presseerklärung an, gegen die tätlichen Angriffe und Verwüstungen in Köln rechtlich vorgehen zu wollen. Ferner distanzierte sich der „BVL” von jeglicher Gewalt und jeglichem Extremismus. „Wir distanzieren uns von und widersprechen allen Bestrebungen, egal, aus welcher politischen Richtung, unser nachweislich uneingeschränkt friedliches Eintreten und unsere respektvolle Arbeit für das Lebensrecht aller Menschen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Gesundheitszustand oder Alter, für radikale, extremistische, demokratiefeindliche Zwecke oder Hetze jeder Art zu missbrauchen, zu diskreditieren oder zu instrumentalisieren“, so der BVL. Der nächste „Marsch für das Leben” in Berlin und Köln soll am 21. September 2024 stattfinden. Man darf gespannt sein, was die Kölner Polizei bis dahin gelernt hat.
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