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Wenig Wertschätzung für Großfamilien

Familien mit drei oder mehr Kindern sind in Deutschland die Ausnahme. Eine Studie der Bertelsmannstiftung beleuchtet ihre Situation.

 

Ein Artikel aus der Tagespost vom 18.08.2024

Autorin: Cornelia Huber


In der Medienwelt und in der Gesellschaft ist die Zweikindfamilie als Leitbild der idealen Familie in Deutschland omnipräsent. Mehrkindfamilien dagegen sucht man meist vergebens. Geht es um Wohneigentum für Familien, ist auf den Hochglanzbroschüren eine Bilderbuchfamilie aus Vater, Mutter und zwei Kindern zu sehen. Aber auch Fotostudios, Casting-Agenturen oder Autohäuser werben mit dieser Familiengröße. Im Normalfall, so suggerieren es Broschüren und Werbespots, haben Familien einen Sohn und eine Tochter.

Die Zweikindfamilie wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts nach dem Babyboom in Europa zur allgemeinen Norm. Wie die Familienforscherinnen Sabine Diabaté und Kerstin Ruckdeschel in einem Fachartikel aus dem Jahr 2016 erläutern, „zeigt sich über alle Kohorten hinweg die Dominanz der Zwei-Kinder-Kategorie und deren Kontinuität“. Diese dominiere inzwischen so lange, dass sie die biografischen Erfahrungen der aktuellen Kohorten im Familiengründungs- und -erweiterungsalter präge und die „Zweikindnorm“ somit intergenerational weitergegeben werde. Dabei beziehe sich die „Zweikindnorm“ sowohl auf die faktische Kinderzahl als auch auf die gewünschte. Untersucht wurde die Entwicklung der Kinderzahl von Frauen ausgewählter Jahrgänge, die jüngste Kohorte umfasste die Jahrgänge 1973 bis 1977.


Jeder fünfte Frau kinderlos

Auch wenn aktuell die Hälfte der zwölf Millionen Familien in Deutschland Ein-Kind-Familien sind, belegen aktuelle Statistiken die These von der „Zweikindnorm“. Wie das Statistische Bundesamt im Mai 2024 passend zum Muttertag mitteilte, lebten in Deutschland insgesamt 20,3 Millionen Mütter im Alter von 15 bis 75 Jahren. Damit haben fast zwei Drittel (64 Prozent) aller Frauen dieser Altersgruppe mindestens ein Kind zur Welt gebracht.

Nimmt man die endgültige Kinderzahl je Frau in den Blick, ist zum Ende der typischen fertilen Phase jede fünfte Frau (20 Prozent) kinderlos und jede vierte Frau (25 Prozent) Mutter von einem Kind. Mehr als jede dritte Frau dagegen (37 Prozent) hat zwei Kinder und fast jede sechste Frau (17 Prozent) ist die Mutter von drei oder mehr Kindern.


Stigmatisierung von Familien mit mehr als zwei Kindern

Das Leben einer Mehrkindfamilie bringt so manche Besonderheiten mit sich. Mütter und Väter mit drei und mehr Kindern nehmen einen anspruchsvollen Alltag auf sich. Sie verzichten oft auf eine (umfänglichere) Erwerbstätigkeit, Zeit zur Regeneration und eigene Wünsche. Das machen sie zumeist gerne und genießen das Glück ihrer großen Familie. Ihre Leistung – auch mit Blick auf den Generationenvertrag in unserer Gesellschaft – wird aber zu wenig anerkannt. Vielmehr erleben sie Vorurteile und Stigmatisierung, wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2022 mit dem Titel „Mehrkindfamilien gerecht werden“ belegt.

Laut der Studie lebten 2021 1,3 Millionen Familien mit drei und mehr Kindern unter 18 Jahren in Deutschland. Das entspricht einem Anteil von 15,8 Prozent an allen Familien. Mehr als jedes vierte Kind (27,4 Prozent) wächst mit zwei oder mehr Geschwistern auf. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit im Mittelfeld. Spitzenreiter Irland weist 22,8 Prozent Mehrkindfamilien auf, am Ende der Tabelle findet sich Bulgarien mit einem Anteil von 5 Prozent an Familien mit drei und mehr Kindern.


Ohne Sparsamkeit geht es nicht

Wie die deutschen Familien ihren Alltag meistern, hat die Bertelsmann-Studie anhand von Interviews mit verschiedenen Familien untersucht. Neben kleinen und größeren Herausforderungen kamen dabei auch zahlreiche Glücksmomente zutage. Finanzielle Engpässe kennen mehrere der befragten Familien, so auch Manuela und Thomas Lorenz. Sie haben sich mit 18 Jahren ineinander verliebt. Zum Zeitpunkt des Interviews sind sie verheiratet und schauen auf 20 Jahre geteilte Lebenserfahrung. Gemeinsam haben sie mittlerweile vier Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren. Beide Eltern sind berufstätig, die Mutter in Teilzeit als Sozialwissenschaftlerin, der Vater in Vollzeit als Angestellter in einem Handwerksbetrieb.

Die Familie muss auf die Finanzen achten, auch darum sind zwei Einkommen wichtig. Da sie den Hauskredit abzahlen müssen, haben sie „nicht super viel Geld zur Verfügung“. Auch wenn sich die Mutter „vom Grundlebensgefühl“ nicht so fühle, als hätten sie „zu knapsen“, spielt Geld und auch Sparen im Alltag eine Rolle. Die Familie nutzt Secondhandkleidung und Food-Sharing, legt jeden Monat etwas Geld für den Urlaub zurück und passt ihren Lebensstil dem Einkommen an.


Mehr Beachtung und Wertschätzung gewünscht

In manchen Momenten aber hätte die Mutter „gerne ein bisschen mehr Puffer, um manche Entscheidungen lockerer treffen zu können und mir nicht so viele Gedanken machen zu müssen“. Von der Gesellschaft wünscht sich die Familie mehr Beachtung und Wertschätzung für das „Zurückstecken der Eltern (...) an eigenen Interessen, an eigener Zeit, an eigenem Vorankommen, ( …) eigenen Lebenszielen und von eigenen Lebenschancen“.

Auch Uwe und Adela Faaber, Eltern von fünf Kindern im Alter von elf bis 19 Jahren, müssen genau rechnen. Der Umbau des Hauses, die Interessen der Kinder und der Lebensunterhalt werden von einem Einkommen bestritten. Die sehr großzügige Rabattregelung der örtlichen Musikschule ermöglicht, dass alle Kinder ein Instrument erlernen.

Für Uwe Faaber erweisen sich die finanziellen Spielräume und Grenzen einer Familie aber auch als ein Resultat eigener Perspektiven, Ansprüche und Umsetzungsweisen: „Wenn ich natürlich den Anspruch habe, dass ich für jeden (...) alle paar Jahre (...) immer wieder ein neues Smartphone brauche oder einen Fernseher oder dieses oder jenes, dann brauche ich natürlich mehr Einkommen, um diese Ansprüche zu befriedigen. Wenn ich die Ansprüche nicht habe, dann kann ich durchaus mit einem geringeren Einkommen zufrieden sein, ohne dass mir was fehlt.“ In einem Restaurant könne man durchaus auch das Essen teilen und nur fünf Gerichte für die siebenköpfige Familie bestellen, wenn davon alle satt werden.


Mehr Verständnis wäre schön

Von Vorurteilen, Abwertung und blankem Unverständnis der Umgebung berichtet die zwölfköpfige Familie Heinemann. Für Karl und Henriette Heinemann stand seit ihrer „Teenager-Zeit“ in der Tanzschule fest, dass sie eine Familie mit vielen Kindern gründen wollen. Das älteste der zehn Kinder ist inzwischen 20 Jahre alt, das jüngste noch ein Säugling. Familie Heinemanns Belange und Lage könnten, so der Vater, meist von Personen mit weniger oder keinen Kindern nicht nachvollzogen werden. Obwohl in der Nachbarschaft andere kinderreiche Familien mit drei oder vier Kindern leben, erntet die Familie keinesfalls immer Verständnis von anderen Mehrkindfamilien.

Eine typische Reaktion seien Hinweise darauf, dass sie nicht „jammern“ dürften und „selber schuld“ seien. Für die Eltern entsteht dadurch ein Druck, alles meistern zu müssen und nicht um Unterstützung zu bitten: „Man ist immer schon im Negativbereich und man kann sich so gut anstellen wie man will, nur damit man oft von einem sehr schlechten auf einen schlechten Eindruck kommt. Und das fühlt sich manchmal schon so an, (…) im Umgang mit kinderlosen oder auch mit deutlich weniger Kinder-Familien.“


"Was die Familie ausmacht, wird komplett ausblendet"

Während der Schwangerschaft mit dem vierten Kind wurde Karl Heinemann von einer Kollegin regelrecht angefeindet. Über den Verband kinderreicher Familien e.V. und die Waldorfschule, die einige Kinder besuchen, haben die Eltern nun Gleichgesinnte gefunden, von denen sie sich verstanden wissen.

Ein weiteres Vorurteil, mit dem Heinemanns konfrontiert werden: bei einer solch großen Familie würden sich die Kinder nicht gut entwickeln, weil sich die Eltern nicht gut genug um alle kümmern könnten. Außerdem sieht die Umgebung ein Problem darin, dass nicht jedes Kind ein eigenes Zimmer hat. So manche Kommentare sind die Eltern leid: „(...) wenn man dann zum zweiten Mal und zum dritten Mal gefragt wird, das doch immer nur wieder darauf hinausläuft: ,Ja, wie oft wascht ihr jetzt?‘ Und: ,Wie viel Flaschen Wasser kauft ihr jetzt?‘ Da finde ich das immer so ein bisschen schade, weil es das Eigentliche, was die Familie ausmacht, komplett ausblendet. Da geht es immer nur um das Materielle, um das Finanzielle.“ Das Glück, viele Kinder aufwachsen zu sehen, hat in solchen Bemerkungen keinen Raum.


Am ehesten würdigen Fachleute das Engagement von Mehrkindeltern 

Das große Engagement von Mehrkindeltern können wohl am besten professionelle Kräfte würdigen. Sowohl im Kindergarten als auch in der Schule wächst das gegenseitige Vertrauen zwischen Eltern und Fachkräften durch die langjährige Beziehungsarbeit. So erlebt die in Vollzeit berufstätige Antonia Voigt Wertschätzung und Anerkennung durch die Fachkräfte in den Einrichtungen ihrer sieben Kinder, deren Altersspanne von vier bis achtzehn Jahren reicht. Alle Kinder entstammen einer 20-jährigen Ehe, zwei Jahre vor dem Interview hatte sich Antonia Voigt von ihrem Ehemann getrennt.

„Man wird ja sehr schnell in eine Schublade gesteckt mit vielen Kindern“, sagt die alleinerziehende Mutter. Als Alleinerziehende mit sieben Kindern ist sie eine Minderheit in der Minderheit. Wenn aber vor allem in Belastungssituationen ein „Ey, du machst das toll“ anstelle von „Oh, wie schaffst du das alles?“ komme, sei das eine große Unterstützung. So habe sich etwa in der Schule eine zunächst schwierige Situation aufgrund einer verständnisvollen Reaktion der Lehrerin in eine Entlastung für die siebenfache Mutter gewandelt. Eines der Kinder hatte während der Corona-Pandemie Schulschwierigkeiten. Antonia Voigt teilte der Lehrerin ehrlich ihre Grenzen mit. Sie könne nicht auf jede einzelne E-Mail antworten. Die Lehrerin zeigte Verständnis und meinte, sie wisse ja um das Bemühen der Mutter.


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