Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat einen Maßnahmenkatalog gegen den akuten Lehrermangel vorgelegt. Es ist nur Flickwerk und alles andere als eine langfristige Strategie. Außerdem kommt die KMK einmal mehr zu spät.
VON JOSEF KRAUS
Die unzureichende Versorgung der mehr als 40.000 deutschen Schulen mit ausreichend vielen und mit gut qualifizierten Lehrern ist nicht erst jetzt zu einem ernsten Problem geworden. Viel zu spät wird Alarm geschlagen. Denn seit mehr als zwei Jahrzehnten musste bekannt sein, welches Problem hier auf Deutschland zukommt. Im Jahr 2003 etwa war klar, dass die Hälfte der damals tätigen Lehrer über 47 Jahre alt ist, also spätestens bis zum Jahr 2021 altersbedingt zu ersetzen war. Auf Vollzeitstellen umgerechnet und unter der Annahme, dass sich in dieser Zeit die Zahl der Schüler (an allgemeinbildenden Schulen 2003: 9,7 Millionen; 2022: 8,4 Millionen) eher verringern würde, waren dies damals mehr als 300.000 Lehrerstellen, die bis 2021 neu zu besetzen waren.
Für diesen Ersatzbedarf wurden aber keine hinreichenden Vorkehrungen getroffen und nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen. Die Politik wurstelte sich von Legislaturperiode zu Legislaturperiode durch. Das waren Landtagsphasen von jeweils vier oder fünf Jahren und damit eine zu kurze Zeit, um nachhaltige Personalpolitik betreiben zu können. Dabei ist der Personalbedarf der Schulen anders als in der freien Wirtschaft recht gut prognostizierbar. Die entscheidenden Bedingungsgrößen sind zum Teil auf mehrere Jahrzehnte hinaus bekannt (Altersstruktur der aktiven Lehrerschaft), zumindest aber auf ein Jahrzehnt hinaus (Zahl der Schüler, Zahl der Lehramtsstudenten). Zum Beispiel sind der Gymnasiast/Mittelschüler/Realschüler/Gesamtschüler des Jahres 2033 und der Berufsschüler des Jahres 2039 jetzt schon geboren.
Hier muss sich die Politik Versäumnisse vorrechnen lassen: Sie operierte zumeist kurzatmig mit zahlenmäßig kaum wirksamen Quereinsteigerprogrammen. Und sie rettete sich mit „Tricks“ über einen Mangel an Lehrern hinweg: Die Kürzung der Wochenstundentafel um eine Stunde verschleiert beispielsweise drei Prozent des Unterrichts- und Lehrerbedarfs, die wiederholt praktizierte Erhöhung der wöchentlichen Unterrichtsmaße der Lehrer um eine Stunde retuschiert rund vier Prozent des Unterrichtsbedarfs. Diese „Tricks“ waren bald ausgereizt.
Kultusministerielle Expertise kommt viel zu spät
Nun hat die „Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz“ (SWK) am 27. Januar 2022 auf 40 Seiten Maßnahmen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel vorgelegt. Diese zielen darauf ab, den Einsatz qualifizierter Lehrkräfte zu verbessern und den Bedarf (!) zu senken.
Diese Expertise kommt erstens um viele Jahre zu spät. Und sie vernebelt zweitens die Ursachen des Lehrermangels, nämlich das Versagen der Personalpolitik der 16 Länder, wenn in der Expertise zu lesen ist: „Der Lehrkräftemangel hat in erheblichem Maße demografische Ursachen …“
Wie bitte? Im Jahr 1997 gab es im wiedervereinten Deutschland allein in den allgemeinbildenden Schulen 10,1 Millionen Schüler. 2008 waren es dann 9,0 Millionen, 2018 gab es 8,3 Millionen, im Jahr 2022 sind es 8,4 Millionen. Also, mit der demografischen Entwicklung der Schülerschaft kann der Lehrermangel nichts zu tun haben. Dass es von 2018 auf 2022 einen Zuwachs von rund 100.000 Schülern gab, macht einen Zuwachs von 1,2 Prozent aus. Zugegebenermaßen kamen – wer weiß, für wie lange – rund 200.000 ukrainische Schüler hinzu. Aber es bleibt dabei: Das Elend mit der Lehrerversorgung hat sich die Politik seit mindestens zwanzig Jahren selbst zuzuschreiben.
Flickwerk
Was die SWK jetzt empfiehlt, ist Flickwerk und alles andere als eine langfristige Strategie. Zum Beispiel schlägt die Kommission vor:
Erschließung von Beschäftigungsreserven bei qualifizierten Lehrkräften. Das heißt: Man will Teilzeitlehrer (die 49 Prozent aller Lehrer ausmachen) dazu motivieren, ihr Unterrichtskontingent zu erhöhen, und pensionierte Lehrer zurückholen.
Entlastung und Unterstützung qualifizierter Lehrkräfte durch Studenten und andere, formal nicht (vollständig) qualifizierte Personen. Das heißt: Entprofessionalisierung des Lehrerberufes.
Flexibilisierung durch Hybridunterricht in höheren Jahrgangsstufen, Erhöhung der Selbstlernzeiten. Das heißt: Fortsetzung eines gerade für schwächere Schüler ineffektiven, in coronabedingten Zeiten der Schulschließungen ersonnenen Distanzunterrichts.
Bestandsaufnahme, Bewertung und Weiterentwicklung von Modellen des Quer- und Seiteneinstiegs. Das heißt nach all den vorliegenden Erfahrungen: minimales Flickwerk.
Die Kommission betont zugleich, dass es sich hierbei um Notmaßnahmen handle, die zeitlich befristet sein müssten. Langfristig seien neue Formen der Unterrichtsorganisation und der Ausbildung sowie Gewinnung von Lehrkräften notwendig.
Die amtierende Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Berlins Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse, ist jedenfalls angetan von der SWK-Expertise. Wörtlich meinte sie: „Die Kurz-Stellungnahme der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK zeigt aus wissenschaftlicher Sicht die systematischen Möglichkeiten auf, dem akuten bundesweiten Lehrkräftemangel kurz- und mittelfristig zu begegnen … Die SWK hat auch noch einmal deutlich gemacht, dass die systematische Qualifizierung von Quer- sowie Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern auf viele Jahre angelegt sein muss. Wir haben in Berlin damit schon früh begonnen und ein eigenes Qualifizierungszentrum eingerichtet.“ Aha, ausgerechnet Berlin als Vorbild!
Auf lange Sicht müssen die Maßnahmen angelegt sein, richtig. Das heißt, der Lehrerberuf muss offensiv als attraktiv unter Abiturienten dargestellt werden. Wobei klar ist, dass der hier erzielte Zuwachs an Aspiranten erst rund sieben bis acht Jahre später in der Schule ankommt.
Wie auch größere Klassen funktionieren können
Eine bestimmte Maßnahme indes dürfte kurzfristig den größten Effekt haben. Die KMK wagt sich hier nur mit spitzen Fingern heran, weil sie den Aufschrei der Lehrerschaft befürchtet. Die KMK nennt es „Flexibilisierung der Klassengrößen an weiterführenden Schulen“. Ja, aber warum nicht in allen Jahrgangsstufen? Klassen sollten schon auch über 25 oder 30 Schüler groß sein dürfen. Vor 30 Jahren gab es 35- und 40-köpfige Klassen. Das ist nicht so lange her. Klar, die Schülerschaft heutzutage ist schwieriger, unkonzentrierter, chaotischer geworden. Aber wir wissen auch, dass große Klassen bei Leistungstests nicht schlechter abschneiden.
Damit größere Klassen „funktionieren“ können, muss aber ein Zweifaches geschehen: Die Unterrichtsmethodik muss sich entgegen allen hochgerühmten „selbstbestimmten“ Lernformen wieder mehr auf das besinnen, was einen effektiven Unterricht ausmacht – ein straff von der Lehrkraft geführter und in hohem Maße aktivierender Unterricht. Und zweitens: Schule und Lehrer müssen wieder als Autoritäten gelten.
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