Veröffentlicht in der Soziale Ordnung 2002, Heft 1, S. 12-13, 17
Autor:

Roland Koch, ehemals Ministerpräsident von Hessen.
Kinder sind die wichtigste Zukunftsressource eines Landes. Ihre Zahl, Begabung, Ausbildung und Leistungsfähigkeit sind entscheidend. Das gilt erst recht für das rohstoffarme Deutschland.
Es ist deshalb alarmierend, dass die deutsche Geburtenrate im weltweiten Vergleich seit 30
Jahren ganz hinten liegt. Es entfallen auf jede Frau durchschnittlich nur noch rund 1,35 Geburten; in Frankreich sind es 1,71, in Großbritannien und Dänemark 1,72 und in den USA sogar 2,0. Auch bei den Bildungsanstrengungen, das zeigen die OECD-Statistiken, liegt Deutschland weit abgeschlagen an viertletzter Stelle, gleichauf mit Mexiko. Tatsache ist, dass inzwischen jedes siebte Kind in Deutschland zeitweise oder auf Dauer Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss. Das kann die Bildungs- und Leistungsfähigkeit gravierend beeinträchtigen.
Die Folgen dieser Entwicklung werden spürbar. So beklagen die Wirtschaftsverbände immer lauter den wachsenden Mangel an Fachkräften, der zur ernsten Wachstumsbremse wird. Gleichzeitig stehen die sozialen Sicherungssysteme vor einem enormen Beitragsanstieg. Dass wir den Bedarf an höchstqualifizierten Fachkräften durch Zuwanderung decken könnten, ist Illusion, wie schon der geringe Erfolg der "Greencard" lehrt. Umgekehrt müssen wir sogar aufpassen, dass nicht gerade unsere besten Wissenschaftler Deutschland den Rücken kehren. Außerdem widerspricht es allen Zielen der Entwicklungspolitik, wenn wir mit dem Scheckbuch den Entwicklungs- und Schwellenländern, aus denen die Fachleute kommen könnten, ihre besten Leute weglocken.
Neue Verteilungsordnung
Was wir brauchen ist ein beispielloser familienpolitischer Kraftakt. Er setzt allerdings
Selbstkritik der Politik voraus. Denn als man nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland über eine Reform des Sozialsystems nachdachte, wiesen weitsichtige Wissenschaftler die Politik darauf hin, dass in einer Marktwirtschaft stets der Einzelne im Vorteil sei; deshalb sei eine familienpolitische Korrektur dieser "individualistischen Engführung" durch das Steuer- und Sozialrecht die Großaufgabe für die Gesellschaftspolitik. Eine Politik der kleinen Mittel würde hoffnungslos verpuffen.
Die Politik wollte das nicht zur Kenntnis nehmen. Im Juni 2001 hat der Wissenschaftliche
Beirat beim Bundesfamilienministerium den Vorschlag für eine Fundamentalreform des Familienlastenausgleichs gemacht, der diese Vorstellungen originalgetreu wiederaufleben lässt. Schärfer können 50 Jahre bundesdeutscher Familienpolitik kaum kritisiert werden.
Rechts- und sozialstaatlicher Skandal
Ein Armutszeugnis für die Politik ist die Tatsache, dass erst das Bundesverfassungsgericht mit mehreren Entscheidungen die Beseitigung eklatant verfassungswidriger Zustände anmahnen musste. Dass Rot-Grün noch nach dem "Familienurteil" vom 10. November 1998 eine Ökosteuer ins Werk gesetzt hat, welche Familien gleich doppelt benachteiligt, ist ein rechts- und sozialstaatlicher Skandal: Erst werden die Familien aufgrund des höheren Energieverbrauchs härter belastet, und dann noch einmal bei der Subventionierung der Rentenbeiträge übers Ohr gehauen, weil der Single bei gleichem Brutto dieselbe Entlastung erfährt wie die mehrköpfige Familie. Auch die Steuerreform 2000/2005 lässt die
Einkommenskluft zwischen Familien und Personen ohne Unterhaltspflicht wachsen. Denn der Single erhält bei EUR 30.678 brutto eine Entlastung von EUR 1.067, die vierköpfige Familie hingegen nur von EUR 951. Auch wirtschaftspolitisch kann man unsinniger nicht handeln, denn Ziel der Wirtschaftspolitik ist es ja, Einkommen und Bedarf in Einklang zu bringen; hier passiert das Gegenteil.
Solidarprinzip steht Kopf
Das Grundgesetz gebietet die Familienförderung. Eine solche kann erst dort einsetzen, wo die vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Benachteiligungen der Familien beseitigt sind. Hier gibt es den entscheidenden Reformbedarf. Das betrifft vor allem die Beitragsseite der Sozialversicherung, wie das Bundesverfassungsgericht im Pflegeurteil vom 3. April 2001 festgestellt hat. Dass Familien bei gleichem Einkommen ohne Rücksicht auf ihr viel höheres Existenzminimum dieselben Beiträge zahlen sollen wie Alleinstehende, stellt das Solidarprinzip auf den Kopf.
Nach wie vor ist auch der Widerspruch der Rechtsordnung nicht ausgeräumt, dass das
Familienrecht von den Eltern einerseits verlangt, dass sie ihren Kindern den angemessenen
Unterhalt zahlen, und der Staat diesen von ihm selbst aufgestellten Verpflichtungen im
Einkommensteuerrecht dann aber die volle Anerkennung versagt; die Berücksichtigung des
Existenzminimums greift offensichtlich zu kurz. Gleichzeitig zeigt ein Blick auf unseren Nachbarn Frankreich, der die Familie durch Einführung des Familiensplittings im Steuerrecht maximal berücksichtigt, was tatsächlich machbar ist. Frankreich mit rund 58 Millionen Einwohnern hat im letzten Jahr mit 779.000 Neugeborenen inzwischen sogar absolut mehr Geburten als wir in Deutschland mit 82 Millionen. Hier zählte man 754.000 Neugeborene. Ferner muss auch darüber nachgedacht werden, wie wir die überproportionalen Belastungen der Familien bei den Verbrauchssteuern auf dem Kindesunterhalt ausgleichen.
Bei diesen Fragen geht es nicht um Familienförderung, sondern nur um die Durchsetzung des Prinzips der Belastungsgleichheit, der Bemessung nach Leistungsfähigkeit, im Recht der öffentlichen Abgaben.
Familienförderung, wie sie das Grundgesetz gebietet, verlangt aber noch viel mehr. Zum Beispiel die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier ist neben dem öffentlichen Dienst auch die Wirtschaft gefordert, die Arbeitsplätze mehr an den Bedürfnissen von Familien auszurichten. Eine Reihe von ermutigenden Beispielen gibt es. Zu fragen ist, ob die so genannte Frauenquote nicht besser eine Elternquote sein sollte, die auf die tatsächlich erbrachte Erziehungsleistung abstellt. Das könnte berufstätigen Vätern den Anreiz bieten, sich endlich mehr um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern. Ziel muss sein, dass Familien mit durchschnittlichen Einkommen ihre Kinder aus eigener Kraft großziehen können und nicht in die Rolle von Almosenempfängern gedrängt werden.
Unbequeme Fragen für die Politik
In den Mittelpunkt ihrer familienpolitischen Offensive haben CDU/CSU das Familiengeld gestellt: 600 EUR je Kind für die ersten drei Lebensjahre, danach 300 EUR im Monat. Diese Summen klingen zunächst astronomisch. Wer nachrechnet, stellt jedoch schnell fest, dass damit kaum die Überlasten der Familien in den Abgabesystemen ausgeglichen werden.
Im Übrigen müssen wir uns fragen, ob das Sozialbudget vernünftig verteilt ist. Wir pumpen
Jahr für Jahr 0,65 Billionen EUR - das sind rund 8.180 EUR pro Einwohner - in die Sozialsysteme, und ausgerechnet die Familien sind die Verlierer im Verteilungsspiel. Dass dem, der hat, noch gegeben wird, hat mit Sozialstaat nichts zu tun. Es spricht also viel dafür, dass man für die notwendige Umschichtung zwischen Familien und Nichtfamilien nicht mehr Geld braucht, sondern nur eine effektivere Verteilung.
Was ist uns Zukunftsfähigkeit wert? Sie ist nicht umsonst zu bekommen. Und wer die notwendigen Mittel für die Familien nicht locker machen will, sollte sich darüber klar sein, dass dann schon bald für ihn selbst auch nichts mehr da sein wird. Wer bei den Kindern spart, handelt wie der Bauer, der sein Saatgut verfüttert. Hier müssen wir über den Tellerrand hinaus denken und handeln.
Weil Kinder keine Wähler sind, werden sie von der Politik oft ignoriert. Die Fragen sind unbequem, aber wir müssen sie stellen und beantworten: Wer soll für die familienpolitischen
Verbesserungen zahlen? Rot-Grün finanziert die Kindergelderhöhung 2002 durch harte
Einschnitte bei anderen familienpolitischen Elementen. Das ist ein Spiel mit gezinkten
Karten, aber kein Familienlastenausgleich. Ein solches Täuschungsmanöver zur Schonung der Wählerklientel ist zwar billig, kommt uns aber teuer zu stehen. Denn das kostet Zukunft. Was ist wichtiger, die dreizehnte Pension unserer Beamten oder ein flächendeckendes
Betreuungsangebot? Immerhin erhalten Rentner der gesetzlichen Rentenversicherung nur 12 Zahlungen im Jahr.
Wenn die Spielräume enger werden, müssen wir entscheiden: Was ist wichtig, wichtiger, am wichtigsten?
An solchen Fragen wird sich erweisen, ob unser Gemeinwesen noch wirklich intakt ist oder ob, wie viele behaupten, das Besitzstandsdenken jede ehrliche und zukunftsweisende Antwort verhindert.
Das Familiengeld hat den Charakter einer Sofortmaßnahme. Familien brauchen sofort Hilfe. Das Familiengeld ist aber kein Ersatz für eine gründlich vorbereitete, grundlegende familienpolitische Strukturreform des Sozialstaats. Es wird als Geschenk wahrgenommen, obwohl es von den Familien selbst zu großen Teilen finanziert wird. Das ist nicht nur ineffizient, sondern erschwert die rationale Diskussion. Denn angesichts der hohen Abgabenlasten, die wir den Kinderlosen heute bereits zumuten, werden sie vielleicht wenig
Verständnis für scheinbar großzügige Geschenke an Familien haben. Dass damit nur Überlasten ausgeglichen werden, muss ihnen aus diesem Blickwinkel verborgen bleiben.
Es ist eine wirtschaftlich-soziale Frage: Ob uns der Schritt zur familiären Gesellschaft gelingt, der seit 50 Jahren überfällig ist.
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