Mehrkindfamilien sind ein wenig beleuchtetes Phänomen, obwohl jedes vierte Kind in Deutschland mit zwei oder mehr Geschwistern aufwächst. Die Politik hat oft nur die Zwei-Kind-Familie im Blick.
Modell Großfamilie Teil 2.
Ein Artikel aus der Tagespost vom 16.04.2024
Autorin: Cornelia Huber
Mütter und Väter mit drei und mehr Kindern leben ein „anspruchsvolles und herausforderndes, aber zugleich auch intensives, vielfältiges und schönes Familienleben“, wie die Studie der Bertelsmann-Stiftung „Mehrkindfamilien gerecht werden“ aus dem Jahr 2022 formuliert. Die Veröffentlichung der Studie erfolgte vor dem Hintergrund der sich überlappenden Krisen von Corona-Pandemie, geschlossenen Schulen, Ukraine-Krieg, massiver Preissteigerungen im Energiesektor sowie zeitweiser Engpässe bei Nahrungsmitteln. Da die (familien-)politische Norm in Deutschland trotz des gesellschaftlichen Diskurses über die Vielfalt von Lebensformen und angesichts der weithin anerkannten Pluralisierung von Familienformen weiterhin die Zwei-Kind-Familie ist, diagnostiziert die Studie eine „tendenzielle Blindheit gegenüber den Leistungen“ der Mehrkindfamilien.
Das spiegelt sich auch in der Forschungslage wider: Obwohl Mehrkindfamilien keineswegs eine statistische Randgruppe sind, – jedes vierte Kind wächst mit zwei oder mehr Geschwistern auf – sind die wissenschaftlichen Beiträge der Familienforschung zu dieser Lebensform überschaubar. Neben den zahlreichen Publikationen von Martin Bujard, stellvertretender Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) und Leiter des Forschungsbereichs Familie und Fertilität, befassen sich in neuerer Zeit die Soziologin Romy Simon und die Sozialpädagogin Rebecca Schmolke mit den Mehrkindfamilien.
Das Standardwerk „Kinderreiche Familien“ von Bernd Eggen und Marina Rupp stammt aus dem Jahr 2006, eine umfassende Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) erschien 2010, und die volkswirtschaftliche Bedeutung der Mehrkindfamilie untersuchte 2017 das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag des Verbands kinderreicher Familien Deutschland e.V.
Herausforderungen von Mehrkindfamilien berücksichtigen
Die spezifischen Bedarfe und strukturellen Herausforderungen von Mehrkindfamilien müssten stärker in Wissenschaft und Forschung, aber vor allem auch bei politischen Maßnahmen in den Blick genommen und konsequent berücksichtigt werden, lautet denn auch das Fazit der Verfasser der Bertelsmann-Studie. Worum es konkret geht, schildern Eltern von mindestens drei Kindern mit großer Offenheit in berührenden Interviews.
So wünschen sie sich im psychosozialen Bereich eine unterstützende und wertschätzende Kommunikation über Familienthemen, in der auch Probleme und Verletzlichkeiten zur Sprache kommen können. Die Mehrkindeltern betonen die Bedeutung von Vertrauen, genügend Zeit und gute Gelegenheiten für Kommunikation insbesondere mit Fachkräften in Kindergärten, Schulen oder Beratungsstellen. Dort machen sie überwiegend positive Erfahrungen.
Verlässliche soziale Beziehungen sind wichtig
Des Weiteren sind den Eltern stabile und verlässliche Beziehungen innerhalb der Familie sowie zwischen Freunden der Familie, der Familienmitglieder und in der Nachbarschaft wichtig – schließlich geht es darum, informelle Netzwerke „für die Organisation des ganz normalen Familienchaos, in dem immer wieder kurzfristig improvisiert werden muss“, zu schaffen, zu gestalten und aufrecht zu erhalten.
Eine Mutter vermutet, dass manche Familien den Schritt zum dritten Kind nur deshalb nicht wagen, weil sie angesichts der allgemein üblichen Doppelerwerbstätigkeit beider Elternteile und des frühen Kindergartenbesuchs kaum Unterstützung aus dem sozialen Umfeld erwarten können.
Problem: Hohe Wohn- und Lebensmittelkosten
In materieller Hinsicht nennen die Familien in erster Linie die hohen Wohnkosten und die vielen Ausgaben für Lebensmittel, die den Konsum in anderen Bereichen stark einschränken. Eine zusätzliche Altersvorsorge ist oft nicht möglich, und bei der Freizeitgestaltung werden bewusst kostenfreie oder günstige Möglichkeiten gewählt.
Finanzielle Vergünstigungen etwa bei Eintrittsgeldern richten sich in der Regel an Zwei-Kind-Familien aus, so dass manche Mehrkindfamilien sich die Angebote entweder nicht leisten können oder eine Familie mit vier Kindern bei einem einzigen Zoo-Besuch eine Jahreskarte erwerben muss, weil alle anderen Varianten noch teurer gewesen wären.
Zwei-Kind-Familie als Standard
Mobilität, Kinderbetreuung, Zugang zu Informationen und passgenaue Unterstützung etwa durch eine Haushaltshilfe in einer Belastungssituation oder die Akzeptanz des Arbeitgebers, wenn der Vater nach der Geburt eines weiteren Kindes Elternzeit nehmen möchte, listen die Familien als strukturelle Bedarfe auf. Insbesondere den öffentlichen Nahverkehr erleben die Befragten mangels kostenfreier Monats- oder Jahreskarten für die Kinder als familienunfreundlich.
Wörtlich heißt es in der Studie: „Solange bei der Planung der Infrastruktur an einem Standard – Zwei-Kind-Familie – starr festgehalten wird, haben Mehrkindfamilien zusätzliche Probleme zu lösen und Hindernisse zu bewältigen. Und auch wenn es ein Familienauto gibt, ist es nicht selbstverständlich, dass damit die gesamte Familie zeitgleich transportiert werden kann.“
Bewusst Zeit mit Kindern verbringen
Bei der Kinderbetreuung hingegen möchten die Familien nicht unter öffentlichen Druck geraten, wenn sie kein Ganztagsbetreuungsangebot annehmen, denn sie entscheiden sich durchaus bewusst für einen bestimmten Erziehungs- und vor allem Lebensstil. Werden früher Kindergarteneintritt und ganztägige Betreuung in der Schule tendenziell seltener als in kleineren Familien genutzt, nehmen Mehrkindeltern den Verzicht von einem höheren Einkommen und mehr Konsummöglichkeiten in Kauf, um Zeit mit den Kindern verbringen und diese prägen zu können.
In diesem Zusammenhang merkt die Studie an, dass „derzeit favorisierte Antworten auf sozialpolitische Fragen, wie die Erhöhung der Müttererwerbstätigkeit, nicht zwangsläufig zu jeder Familienform und zu jedem biografischen Zeitpunkt passen“.
Forderung nach Anerkennung und Wertschätzung
Unter den aus den Interviews abgeleiteten Handlungsempfehlungen steht zuvörderst die klare Forderung nach Anerkennung und Wertschätzung. Eltern von drei und mehr Kindern seien Leistungsträger der Gesellschaft, die einen „großen Beitrag zum sozialstaatlichen Generationenvertrag beisteuern. Stattdessen sehen sie sich aber immer wieder mit Vorurteilen und Stigmatisierungen konfrontiert. Dem sollte deutlich entgegengetreten werden“. Auch die geleistete Care-Arbeit durch Zuwendung und Fürsorge für die Kinder sowie die Haushaltsorganisation müsse gesellschaftlich stärker anerkannt werden.
Ähnlich äußert sich die Studie „Kinderreiche Familien in Deutschland. Auslaufmodell oder Lebensentwurf für die Zukunft?“ des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (2019). Die „erhebliche Bedeutung der kinderreichen Familien für die Erziehung und Vermittlung von Werten für die nächste Generation sowie für die demografische Nachhaltigkeit“ stehe in erheblichem Kontrast zu ihrem Stellenwert in Politik und Gesellschaft. Das BiB stellt zudem klar, Kinderreichtum sei „durchaus auch ein Phänomen der Mittelschicht“, da drei Viertel aller Kinderreichen eine mittlere oder hohe Bildung aufweisen. Auf die Heterogenität der Mehrkindfamilien hatte schon 2010 das Deutsche Jugendinstitut aufmerksam gemacht und unter anderem die Patchwork-Mehrkindfamilie mit ihren speziellen familiendynamischen Prozessen durch verschiedene Familiensysteme näher beschrieben.
Wichtiger Beitrag für die Gesellschaft
Wie sich die Leistung der Mehrkindeltern finanziell auf die Gesellschaft auswirkt, berechnete 2017 das Institut der Deutschen Wirtschaft. Während sich bei drei Kindern mit mittlerem Bildungsniveau ein positiver fiskalischer Gesamteffekt der Dreikindfamilie in Höhe von 126 900 Euro ergibt, liegt dieser Wert bei drei Kindern mit hohem Bildungsstand sogar bei 1,29 Millionen Euro.
Mehrkindfamilien leisten „einen wichtigen Beitrag dazu, der vor dem Hintergrund des demografischen Wandels drohenden Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung in Deutschland entgegenzuwirken“. So könnten sie auch dazu beitragen, das Sozialversicherungssystem und die öffentlichen Haushalte zu stabilisieren. Daher sollte der Übergang zu dritten und weiteren Kindern stärker gefördert werden.
Kindergrundsicherung löst das Problem nicht
Auch der Deutsche Familienverband (DFV) und der Familienbund der Katholiken machen schon lange auf die Bedeutung von Familien für das umlagefinanzierte Sozialsystem aufmerksam. In ihrem jährlich veröffentlichten horizontalen Vergleich zeigen die beiden Verbände auf, dass gerade die Sozialabgaben kinderreiche Familien belasten und unter das Existenzminimum drücken. „Jede Reform, die zum Ziel hat, kinderreiche Familien zu entlasten, muss bei den Sozialabgaben anfangen“, sagte Sebastian Heimann, Geschäftsführer des DFV, anlässlich der Veröffentlichung der Bertelsmann-Studie.
Eine Kindergrundsicherung werde die Kinder- und Familienarmut in Deutschland nicht lösen. „Familien mit drei und mehr Kindern müssen von der Politik nicht nur intensiver berücksichtigt werden. Der Staat muss Paaren grundsätzlich mehr Mut zu mehr Kindern machen“, so Heimann.
Nötig: Angebote und Vergünstigungen für Familien
Als zentrales familienpolitisches Thema identifiziert die Studie das Wohnen, das heißt bezahlbaren und ausreichend großen Wohnraum. Außerdem müssten Angebote und Vergünstigungen für Familien unbedingt Mehrkindfamilien mitdenken: „Die Familienkarte für das Freibad oder den Zoo darf sich nicht an der ,Zwei-Kind-Familie‘ orientieren und andere Familienformen wie etwa Familien mit drei und mehr Kindern (…) ausschließen bzw. benachteiligen.“
Was Netzwerke und Unterstützung angeht, nimmt die Studie die Mitarbeiter in Sozial- und Jugendämtern oder den außerschulischen Bildungs- und Freizeiteinrichtungen auf kommunaler Ebene in die Pflicht. Kinder sollten nicht dafür geradestehen müssen, wenn ihren Eltern eine soziale Einbindung selbst nicht gelinge.
In finanzieller Hinsicht resultieren laut der Studie auch bei Mehrkindfamilien mit einem mittleren Einkommen zentrale Engpässe daraus, dass sich das verfügbare Einkommen im Vergleich zu kleineren Familien auf viele Personen verteilt. Angesichts der hohen Armutsgefährdung von Mehrkindfamilien setzen die Forscherinnen auf eine „Kindergrundsicherung“ zur Deckung der tatsächlichen altersgerechten Bedarfe von Kindern und Jugendlichen für gutes Aufwachsen, Bildung und Teilhabe. Nach den vorläufigen Ergebnissen der Haushaltsberatungen im Juli 2024 erscheint die Einführung einer umfassenden sozialen Sicherung allerdings nicht realistisch.…
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