Autor: Dr. Norbert Neuhaus, Vorsitzender der "Stiftung für Familienwerte"
Gott verzeiht immer – wenn wir bereuen -, wir Menschen verzeihen manchmal – und das fällt uns schwer genug, – die Natur allerdings verzeiht nie – hier gelten die Naturgesetze und diese sind unerbittlich, wenn ein Kipppunkt überschritten wird, und oft ist der Zustand dann irreparabel. Die Natur ist allerdings nichts Drittes, getrennt vom Menschen. Der Mensch ist selbst Geschöpf und Teil der Natur; darauf hat Papst Benedikt XVI in seiner nachlesewerten Rede vor dem Deutschen Bundestag hingewiesen, als er von der Ökologie des Menschen sprach. Dies scheint man heute vielfach zu vergessen, wenn von Gender, Transhumanismus, Geschlechtsumwandlung usw. die Rede ist.
Verzeihung setzt inkohärentes Handeln voraus, d.h. ein Handeln , das sich nicht an der Wirklichkeit ausrichtet, sondern an Wünschen, Träumen, Begierden, ideologischen Vorstellungen, die den Wirklichkeitstest nicht bestehen und zu Verwerfungen führen. Theologisch spricht man von Sünden, soziologisch betrachtet sind es Widersprüche, die sich in Konflikten und schmerzhaften gesellschaftlichen Fehlentwicklungen niederschlagen. In diesem Zusammenhang warnte bereits der Philosoph Josef Pieper, dass eine falsche, irrealistische Vorstellung vom Menschen, von dem Sinn des Lebens automatisch zu Fehlentwicklungen im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben führen. Dies gilt insbesondere für Vorschläge, die das Familien- und Eherecht und in irgendeiner Weise das Lebensrecht selbst betreffen.
Kasten: Familie ist eine primäre konstitutive Seinsgemeinschaft, weil sie mehr ist als bloßes Miteinandersein. Sie konstituiert Zugehörigkeit und Identität, nicht nur aufgrund der biologischen Abstammung, sondern auch durch den intergenerativen Zusammenhang, der sich tiefenpsychologisch im Unterbewusstsein feststellen lässt. Die auf Dauer eines Lebens angelegte Ehe von Mann und Frau ist der Nukleus der Familie. Sie ist eine in der Sozialnatur des Menschen eingeschriebene Institution, die durch einen konkreten Liebes- und Treuevertrag zweier Menschen Gestalt annimmt. Für Mann und Frau ist Ehe und Familie ein intimes Miteinandersein, für Eltern, d.h. Vater und Mutter, und Kinder entspringt hieraus unauslöschliche Zugehörigkeit. Der Auftrag an den Staat, Ehe und Familie im besonderen Maße zu schützen und zu fördern, gründet im Gemeinwohl des Staates selbst, da letztlich nur stabile Ehen und gesunde Familien das Überleben eines Volkes durch die Zeiten sicherstellen. Ganz praktisch hat die Corona-Pandemie dies erneut bestätigt. Der Staat mit seinen Institutionen war überfordert, letztlich waren die Bürger auf ihre jeweiligen Familien zurückgeworfen, die es richten mussten.
Und Inkohärenzen und Widersprüche gibt es in der heutigen Diskussionslage zuhauf.
Beklagt wird die Überalterung der Gesellschaft und die damit verbundene Überlastung der Rentenversicherung. Beklagt wird der demographisch bedingte Fachkräftemangel. Gleichzeitig leistet sich unsere Gesellschaft 100.000-fache Abtreibungen Jahr für Jahr. Seit der sogenannten Reform des § 218 in den 70-iger Jahren des 20. Jahrhunderts sind allein in Deutschland weit über 6 Mio. Kinder abgetrieben worden. Der Fachkräftemangel und die Rentenkrise sind nicht plötzlich über uns gekommen! Anstatt umzusteuern und die Ursachen zu bekämpfen, die Frauen in ihrer Notlage zu diesem folgenreichen Entschluss treiben, wird eine weitere Liberalisierung der Abtreibung von einer Expertenkommission vorgeschlagen, die die Regierung eingesetzt hat. Abtreibung sei ein fundamentales Frauen- , ja Menschenrecht, so wird ideologisch propagiert, und dabei das fundamentalste Menschenrecht überhaupt, nämlich das Recht auf Leben, sträflich missachtet.
Der Fachkräftemangel soll nun u.a. durch Ausschöpfung der Arbeitsmarktreserve gemildert werden, sprich: Frauen sollen möglichst schnell nach der Entbindung wieder in den Erwerbsprozess zurückkehren. Daher der Ausbau der Krippenplätze. Aber allein schon die Frage, wo sollen die hierfür benötigten Fachkräfte herkommen? bleibt unbeantwortet.
Außerdem warnen alle ausgewiesenen Wissenschaftler, die sich mit der frühkindlichen Entwicklung befassen, vor den nachweislichen negativen Folgen auf die Kreativität, Belastungsfähigkeit und Resilienz der U3-Krippenkinder, Folgen, die sich leider später nicht einfach auswachsen, da in diesen drei entscheidenden Jahren wesentliche Verknüpfungen in den Gehirnen der Kinder erfolgen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. So entpuppt sich diese kurzfristige wirtschaftliche Problemlösung, feministisch überhöht als Stärkung der Gleichberechtigung der Frau in der Gesellschaft, als ein gravierendes Handicap für die langfristige Prosperität unseres Landes. Lebensglück und Generationengerechtigkeit sehen anders aus.
Wer so fahrlässig mit den persönlichen familiären Bindungen umgeht, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Krippengeneration ihre Eltern später einfach ins Altersheim abschiebt, so wie sie selbst als Kleinkinder abgegeben wurden. Der Staat soll es richten! Aber er wird es nicht richten können, eben wegen des sich immer mehr verschärfenden Fachkräftemangels in der Altenpflege und den finanziellen Konsequenzen.
Nun soll qualifizierte Einwanderung das Problem entschärfen. Das hatten wir doch schon einmal. (Gast-)Arbeiter sollten kommen, aber es kamen Menschen! Beklagt wird heute der Kolonialismus des weißen Mannes, dabei passiert dasselbe heute wieder unter anderen Vorzeichen. Länder wie Bulgarien, Rumänien und Moldau – um nicht noch weiter zu gehen – verlieren ihre gut ausgebildeten jungen Leute, auf die sie selbst für den nationalen wirtschaftlichen Aufbau angewiesen sind. Mit anderen Worten: wir exportieren unsere demographischen Probleme in andere Länder und hindern diese daran, sich zu entwickeln. Familien werden auseinander gerissen. Sie werden daran gehindert, ihren eigenen Generationenvertrag zu erfüllen. Wo bleibt hier die woke Kritik?
Feministinnen halten den Wert der individuellen Freiheit der Frauen hoch. „Mein Bauch gehört mir!“ lautet ein bekannter Slogan, „Kampf dem Patriarchat und der Männerherrschaft“! Familiäre Bindungen werden als Bevormundung und Behinderung der eigenen Selbstverwirklichung betrachtet. Aber dieselben, die die Emanzipation und Freiheit ständig im Munde führen, wollen den Familien nicht die Wahlfreiheit geben, selbst zu entscheiden, ob sie ihre Kinder in den Hort geben oder sie selbst zuhause betreuen. Die Horte werden mit viel Steuergeld subventioniert, die Familien gehen dagegen leer aus.
Die kleine Witwenrente (25 statt 55%) für alle Eheschließungen nach 2002, der Angriff auf das Ehegattensplitting, das gültige Scheidungsrecht usw. sind Ausdruck einer feministisch geprägten Erziehungsdiktatur, die mit finanziellen Nachteilen ein bestimmtes Verhalten der Frauen erzwingen sollen. Familienarbeit wird mit dem Schlagwort „Heimchen am Herd“ diskreditiert. Ihre volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung, für das persönliche Glück und Wohlbefinden und nicht zuletzt auch für die Bildung und Qualität von „Humankapital“, auf das unser rohstoffarmes Land so angewiesen ist, wird aus ideologischen Gründen systematisch unterschlagen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie von Prognos beziffert die jährliche Sorge- und Familienarbeit zur Haushaltsführung, Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen auf 117 Mrd. Stunden. Demgegenüber stehen 14,4 Mrd. Stunden gewerblicher Arbeit im 4. Quartal 2023 gegenüber, wie das statistische Bundesamt meldet.
Wahlfreiheit? Fehlanzeige!
Ein falscher Freiheitsbegriff schimmert hier durch. Freiheit wird einseitig als Emanzipation, als „Freiheit von“ verstanden, dabei wird verkannt, dass wahre Freiheit nicht Ungebundenheit ist, sondern sich in einer Entscheidung und damit in einer Bindung verwirklicht, die nach dieser Bindung neue, vorher unerreichbare Horizonte freier Handlungsfelder – im Falle der Ehe gemeinsame, familiäre Handlungsfelder - eröffnet. Wo bleibt der Respekt vor alternativen Lebensentwürfen für die Familie? Für LTBGQ – eine Randgruppe - wird es eingefordert, der Familie – dem Mehrheitsmodell - wird es verweigert!
Über Kinderarmut wird heftig debattiert, aber das Wort verdeckt, dass es sich in Wirklichkeit um Familienarmut handelt. Das kinderlose Doppelverdienerpaar kann sich ein gutes Leben leisten. Zugegeben, es zahlt auch mehr Steuern. Das Ehepaar, das sich für Kinder entscheidet, muss befürchten, dass die Armutsfalle zuschlägt. Dabei ist die Grundlage des Familienlastenausgleich nicht die Umverteilung von oben nach unten, sondern horizontal zwischen Menschen mit und ohne Kinder. Die Entscheidung für Kinder soll nicht mit einem sozialen Abstieg verbunden sein und dies ganz gleich in welcher Schicht. Familien, die sich für das Leben entscheiden und Kinder bekommen, haben nicht nur ein finanziell schwierigeres Leben. Kinder bringen gleichermaßen Freude und Sorgen mit sich. Dabei sollte das kinderlose Ehepaar und auch die Gesellschaft nicht vergessen, dass es die Kinder der Familien sind, die schließlich die Rente des kinderlosen Doppelverdienerpaar zahlen. Der Generationenvertrag gehört daher voll umgesetzt. Es geht nicht nur um zwei Generationen, sondern um drei! Die Annahme des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, Kinder kriegen die Leute ja eh, erweist sich als eklatante Fehleinschätzung 70 Jahre nach Abschluss des Generationenvertrages. Die Einführung einer kapitalbasierten Aktienrente mag betriebswirtschaftlich logisch klingen, volkswirtschaftlich kann jedoch immer nur soviel umverteilt werden, wie in einem Jahr auch erwirtschaftet wird. Da ist die Umlagenrente sicherer als Spekulationen an den Finanzmärkten. Zumal hier ein ähnlicher (Ausbeutungs-) Effekt wie bei der Einwanderung erzielt wird. Die Erträge müssen ja irgendwo her kommen, wenn nicht aus dem eigenen Land, dann anderswoher.
In den 50-ziger Jahren war das erklärte Ziel, dass eine Familie von einem Vollzeiteinkommen leben können sollte. Davon sind wir heute weiter entfernt als in den 60-ziger Jahren. Stichwort: Lebensqualität! Dafür diskutiert man heute die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Aber dies ist – wenn wir ehrlich sind – nur möglich, wenn einer oder beide in Teilzeit arbeiten, will man eine systematische Überforderung der Eltern vermeiden (s. Sorgearbeitsstunden für Haushalt, Kinder- und Altenpflege). Flexible Arbeitsmodelle, wo Väter und Mütter Teilzeit arbeiten können, ohne Abstriche an der Karriere in Kauf nehmen zu müssen, oder aber intelligente sequenzielle Lebensarbeitszeitmodelle mit erleichtertem Wiedereinstieg ins Berufsleben nach einer Kinder- und Familienpause für ihn wie für sie, eine Entschleunigung gerade in der Lebensphase zwischen 25 und 40 bei Verlängerung der Lebensarbeitszeit scheinen von Nöten. Gerade diese kurze Zeit ist so wichtig für die demographische und damit für die soziale und wirtschaftliche Stabilität der Nation. Eine grundlegende Umsteuerung des familienpolitischen Ansatzes ist erforderlich, um die Herausforderungen des bevorstehenden demographischen Winters anzunehmen, ohne Denkverbote und ideologische Überhöhungen, ohne Seins-widrige Kurzschlüsse, wirklichkeitsoffen und pragmatisch.
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